top of page
Was ist ME/CFS?

ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom. Es handelt sich dabei um eine neurologische Erkrankung, die im ICD-10 unter dem Code G93.3 klassifiziert ist. Sowohl das Fatigue Centrum der Charité Berlin als auch die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS beschreiben sie als eine schwere neuroimmunologische Krankheit, die zu einer erheblichen körperlichen Beeinträchtigung führen kann.

Trotz ihrer Komplexität und des bisher fehlenden Biomarkers ist ME/CFS keine neue Krankheit: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sie bereits 1969 als neurologische Erkrankung anerkannt.

Mögliche Auslöser können sein:
  • Virale Infektionen (z. B. Epstein-Barr-Virus, SARS-CoV-2, Influenza)

  • Bakterien oder Pilze

  • Chemikalien (z. B. aus Baumaterialien, Möbeln, Textilien)

  • Impfstoffe

  • Operationen

  • Hormonelle Umstellungen

  • Gehirnentzündungen (Myalgische Enzephalomyelitis)

Studien zeigen, dass etwa 50 % der Menschen mit Long Covid sechs Monate nach einer Corona-Infektion die Kriterien für ME/CFS erfüllen.

Was verursacht ME/CFS?

Die genauen Krankheitsmechanismen sind bislang nicht abschließend geklärt. In der medizinischen Forschung werden derzeit drei Hauptansätze diskutiert:

  1. Persistierende Immunreaktion:
    Eine überschießende Immunantwort auf eine Infektion, die sich in ein Autoimmunproblem entwickeln kann.

  2. Mikrozirkulationsstörung:
    Eine gestörte Durchblutung bis in die kleinsten Gefäße. Es wurden Veränderungen wie die Verklumpung von Blutplättchen beobachtet, die zu Organminderdurchblutung führen können.

  3. Fehlfunktion des autonomen Nervensystems:
    Es wird vermutet, dass anhaltender Stress oder Infektionen zu Veränderungen in Hirnarealen wie der Amygdala oder dem limbischen System führen, was das Nervensystem dauerhaft im Kampf- oder Fluchtmodus festhält.

 
Was das konkret bedeutet

Meiner Erfahrung nach ist häufig ein äußerer Reiz – wie etwa ein Virus, eine Impfung oder eine andere starke Belastung – der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das autonome Nervensystem ist oft schon vorher überlastet oder empfindsam – z. B. durch anhaltenden Stress, unverarbeitete Erfahrungen oder emotionale Daueranspannung – und wird dann von dem neuen Reiz überwältigt.

In der Folge bleibt der Körper in einer Stressreaktion „stecken“. Der natürliche Ablauf, bei dem nach einer Aktivierung (z. B. Gefahr) eine Entladung und dann eine Rückkehr zur Regulation folgt, kann nicht mehr abgeschlossen werden.

Wie wird eine Stressreaktion normalerweise beendet?

 

In einem gesunden Nervensystem folgt auf Anspannung eine natürliche Entladung – zum Beispiel durch Zittern, Weinen, Lachen, Bewegung oder soziale Co-Regulation (z. B. durch sichere Verbindung mit anderen Menschen). Der Körper erkennt: Die Gefahr ist vorbei – und kehrt in den parasympathischen Modus zurück, also in Ruhe, Verdauung, Heilung und Verbindung.

Bei ME/CFS gelingt dieser Übergang häufig nicht mehr. Das Nervensystem verliert seine natürliche Schwingungsfähigkeit – also die Fähigkeit, flexibel zwischen Aktivierung und Erholung zu wechseln. Stattdessen bleibt es im Alarmzustand gefangen – oder fällt in einen Schutzmodus, der nicht mehr aus eigener Kraft verlassen werden kann.

Wenn das Nervensystem aus dem Gleichgewicht gerät, betrifft das den ganzen Körper

Das autonome Nervensystem ist mit nahezu allen Körpersystemen eng verbunden. Wenn es dauerhaft in einem Überlebensmodus arbeitet, hat das weitreichende Folgen:

  • 🧬 Mitochondrien (Zellkraftwerke): In Bedrohungslage sendet das Nervensystem das Signal: Gefahr! Die Zellen schalten auf Energiesparmodus um – eine sogenannte Cell Danger Response wird aktiviert, bei der Energieproduktion heruntergefahren wird, um „innere Reparatur“ zu ermöglichen. Bleibt dieses Signal dauerhaft aktiv, kann chronische Energielosigkeit entstehen.

  • 🩸 Immunsystem & Histamin: Chronischer Stress beeinflusst das Immunsystem und das Histaminsystem, was zu Entzündungsreaktionen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Überempfindlichkeiten führen kann.

  • ❤️ Kardiovaskuläres System: Störungen im autonomen Gleichgewicht wirken sich auf den Herzschlag, Blutdruck und Kreislauf aus – zum Beispiel durch POTS (posturales Tachykardiesyndrom), Schwindel, Tachykardie.

  • 🍽️ Verdauungssystem: In Alarmzuständen wird die Verdauung heruntergefahren. Symptome wie Übelkeit, Völlegefühl, Verstopfung oder Reizdarm können Ausdruck davon sein.

  • 🧠 Gehirn & Entzündung: Länger anhaltende Stresszustände können zu niedriggradigen Entzündungen im Gehirn (Neuroinflammation) beitragen – mit Auswirkungen auf Konzentration, Stimmung, Reizverarbeitung und Schmerzempfinden.

Wichtig zu verstehen:
👉 Das Nervensystem ist nicht kaputt. Es ist in einem intakten, aber überaktiven Schutzmodus. Es reagiert so, als wäre ständig Gefahr – auch wenn objektiv keine da ist.

Polyvagal-Theorie & Überlebensreaktionen: Kampf, Flucht, Erstarrung, Anpassung

Die Polyvagal-Theorie des Neurowissenschaftlers Stephen Porges beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem auf wahrgenommene Sicherheit oder Bedrohung reagiert. Dabei gibt es nicht nur „Kampf oder Flucht“, sondern auch tiefergreifende Schutzmuster wie Erstarrung (Shutdown) oder Anpassung (Fawn).

Zentral ist die sogenannte Neurozeption – die unbewusste Fähigkeit des Nervensystems, ständig zu prüfen: Bin ich sicher oder in Gefahr? Dieser Prozess geschieht unterhalb der bewussten Wahrnehmung – und kann durch frühere Erfahrungen oder Dauerstress fehlkalibriert sein.

Das Nervensystem kennt verschiedene Überlebensreaktionen:

  • Fight (Kampf): Wut, Gereiztheit, Muskelanspannung.

  • Flight (Flucht): Getriebenheit, Gedankenrasen, Unruhe.

  • Freeze (Erstarrung / dorsaler Vagus): Erschöpfung, Rückzug, Dissoziation, Lähmung.

  • Fawn (Anpassung): Überangepasstheit, Selbstverleugnung, „funktionieren müssen“.

 
Was hat das mit ME/CFS zu tun?

Bei ME/CFS scheint das Nervensystem nicht mehr in der Lage zu sein, aus diesen Überlebensmustern wieder in echte Regulation zu finden. Es pendelt oft zwischen verschiedenen Zuständen hin und her – zwischen Übererregung (z. B. Unruhe, Reizempfindlichkeit) und Schutzmodus (z. B. Schwere, Rückzug, Erschöpfung) – ohne sich je ganz sicher oder entspannt zu fühlen.

Die tiefe Fatigue kann in diesem Zusammenhang als Schutzreaktion des Nervensystems verstanden werden – ein „Herunterfahren“ aller Systeme, um Energie zu sparen und Bedrohung zu minimieren.

Sicherheit spüren – Regulation ermöglichen

Der Weg aus diesem Zustand beginnt nicht mit Anstrengung, sondern mit der Rückkehr zu innerer Sicherheit. Die Neurozeption kann wieder lernen: Ich bin jetzt sicher. Dafür braucht es keine mentale Überzeugung, sondern körperlich spürbare Erfahrung von:

  • gehalten sein

  • erlauben dürfen

  • sich nicht mehr allein regulieren müssen

Erst wenn das Nervensystem sich sicher fühlt, kann echte Regulation entstehen – und das System beginnt wieder zu schwingen: zwischen Aktivität, Ruhe, Verbindung und Handlungsfähigkeit.

Keine psychische Erkrankung – sondern ein komplexes Zusammenspiel von Körper, Nervensystem und Erfahrungen

Du bist nicht schuld. Und du bildest dir nichts ein.

ME/CFS ist keine psychisch verursachte Erkrankung. Aus meiner persönlichen und fachlichen Sicht liegt ihr oft eine tiefgreifende Dysregulation des autonomen Nervensystems zugrunde. Häufig trifft ein äußerer Auslöser – wie ein Infekt – auf ein bereits belastetes oder sensibles System. Das sprichwörtliche „Fass läuft über“. Belastungen aus der Vergangenheit – wie anhaltender Stress oder traumatische Erfahrungen – können eine Rolle spielen, ohne alleinige Ursache zu sein.

Im Verlauf können sich auch psychische Symptome zeigen – wie Angst, depressive Gefühle oder emotionale Erschöpfung. Diese sind oft direkt mit der Nervensystem-Dysregulation verbunden – etwa durch den dorsalen Shutdown oder durch den anhaltenden inneren Alarmzustand.

Zusätzlich entsteht seelischer Stress, wenn man sich in seinem Zustand medizinisch nicht verstanden fühlt – was bei ME/CFS leider noch häufig der Fall ist, weil die wissenschaftliche Aufarbeitung und Versorgung vielerorts noch am Anfang stehen.

Das ist bei einer so tiefgreifenden und oft unverstandenen körperlichen Erkrankung verständlich und menschlich.
Es bedeutet jedoch nicht, dass die Ursache psychisch ist.

Gleichzeitig kann die Psyche ein wertvoller Teil des Weges zurück in die Balance sein – nicht im Sinne von „Einbildung“, sondern als integrativer Teil eines ganzheitlichen Verständnisses von Gesundheit. Denn das Nervensystem ist lernfähig – und kann durch behutsame, körperlich verankerte Erfahrungen nach und nach in die Regulation zurückfinden

Welche Symptome sind typisch?

ME/CFS ist ein vielschichtiges Krankheitsbild mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Besonders charakteristisch ist die sogenannte: Postexertionelle Malaise (PEM)

Eine verzögerte Verschlechterung der Symptome nach körperlicher, geistiger oder emotionaler Anstrengung – häufig erst Stunden oder Tage nach der Belastung.

Weitere häufige Symptome:

  • Tiefe körperliche und mentale Erschöpfung (Fatigue)

  • Kopfschmerzen

  • Schlafstörungen

  • Atemnot

  • Konzentrations- und Denkstörungen ("Brain Fog")

  • Herzrasen

  • Schmerzen (brennend, kribbelnd, ziehend)

  • Zittern

  • Magen-Darm-Beschwerden

  • Nahrungsmittelunverträglichkeiten

  • Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom (POTS)

  • Temperaturregulationsstörungen

  • Tinnitus

  • Stimmstörungen

 
 
Diagnosestellung

Die Diagnose ME/CFS wird nach Ausschluss anderer Ursachen gestellt – etwa Herzerkrankungen, hormonelle Störungen oder Depressionen. Grundlage sind die Kanadischen Konsenskriterien, bei denen vor allem die Fatigue und PEM zentrale Rollen spielen. Es geht nicht um die Anzahl der Symptome, sondern um deren Art, Dauer und Auswirkungen auf den Alltag

bottom of page